Borussianismus

Apotheose der Reichsgründung, zentrales Wandbild des Kaisersaals in Goslar, Hermann Wislicenus, 1880–1882 – glorifizierende Darstellung des „deutschen Berufs“ Preußens und der Hohenzollern[1]
Borussia, 1885, Staatsallegorie Preußens von Reinhold Begas – Die Abbildung zeigt die 1980/1981 angefertigte Kopie im Preußenpark. Das Original von 1885 wurde als Zentrum der Ruhmeshalle geschaffen, 1936 im Preußenpark aufgestellt, 1980 ins Lapidarium transloziert, schließlich in die Zitadelle Spandau geschafft.
Ansicht der Siegesallee vom Königsplatz, um 1900 – Mit der 1895 in Auftrag gegebenen Siegesallee ließ Kaiser Wilhelm II. im Sinne borussischer Geschichtsauffassung, die seine Herrschaft als notwendiges Ergebnis einer historischen Gesetzmäßigkeit begriff, eine Prachtachse glorifizierender Darstellungen der Hohenzollernherrscher vom Mittelalter bis in Kaiserreich verwirklichen. Die meisten Figuren befinden sich heute in der Zitadelle Spandau.

Borussianismus, abgeleitet von dem neulateinischen Wort Borussia (‚Preußen‘) und dem Namen der preußischen Staatsallegorie Borussia, ist ein von dem Mainzer Erzbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler im Jahr 1867 geprägter politischer Begriff zur Bezeichnung des deterministischen Geschichtsmythos, Preußen habe die historische Mission, Deutschland in ein protestantisch dominiertes Kaiserreich zu führen, und über diesen „deutschen Beruf“ hinaus eine besondere Aufgabe in der Weltpolitik.

Der von Ketteler nach dem Deutschen Krieg in das frühe Kulturkampfmilieu und in den weiteren politischen und historischen Diskurs eingeführte Begriff wandte sich gegen ein entsprechendes, von zeitgenössischen Historikern wie Johann Gustav Droysen, Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke propagiertes Geschichtsbild, gegen den politischen Mythos einer notwendigen Hegemonie Preußens und gegen die kleindeutsche Lösung der Deutschen Frage.

Als Indizien für Borussianismus wertete Ketteler die Vorstellung einer „Oberherrschaft eines absoluten preußischen Königthums“, die „Glorificirung des preußischen Bürokratismus“ und die Idee der „Verbreitung des Protestantismus unter Führung des preußischen Königthums“.

Der Borussianismus prägte das deutsche Meinungsklima im 19. Jahrhundert, insbesondere in den preußisch-deutschen Eliten des deutschen Kaiserreichs. Martin Luther wurde im Rahmen dieser Weltanschauung als Gründerheros stilisiert. Dieser habe – so der Historiker Treitschke – das „sittliche Ideal der Deutschen“ gebildet und durch die Verbindung von Reformation und Sakralisierung des Staates eine Revolution vollzogen, nach der der „Staat selbst eine Ordnung Gottes“ geworden sei.[2] Mit diesem Lutherbild, deutlich ausformuliert 1883 in seiner Rede Luther und die deutsche Nation, beförderte Treitschke den Nationalprotestantismus.

Gegenpositionen zum Borussianismus – gelegentlich als Antiborussianismus oder Antiborussismus bezeichnet – wurden vor allem in der römisch-katholisch, großdeutsch und demokratisch-republikanisch geprägten, österreichischen sowie süd- und westdeutschen Publizistik artikuliert.

  1. Monika Arndt: Die Goslarer Kaiserpfalz als Nationaldenkmal – eine ikonographische Untersuchung. Lax, Hildesheim 1976, ISBN 3-7848-4011-6, S. 179–184.
  2. Edgar Wolfrum, S. 14.

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