Deutsches Kaiserreich

Deutsches Kaiserreich ist die nachträgliche Bezeichnung des Deutschen Reiches für die Epoche von seiner Gründung 1871 bis zum Ende der Monarchie in der Novemberrevolution von 1918. Der erste deutsche Nationalstaat war eine föderale, konstitutionelle Monarchie[1] und nach seiner Verfassung ein „ewiger Bund“ der deutschen Fürsten und der Senate der Freien Städte. Als Staatsoberhaupt nahm der König von Preußen den Titel „Deutscher Kaiser“ an. Otto von Bismarck, Ministerpräsident von Preußen und treibende Kraft hinter der Reichsgründung, war wie die meisten seiner Nachfolger zugleich Reichskanzler. Berlin, die Hauptstadt Preußens, war auch die des Kaiserreichs.

Noch während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 traten die süddeutschen Länder Bayern, Württemberg und Baden sowie der südlich des Mains gelegene Teil von Hessen-Darmstadt dem Norddeutschen Bund bei. Mit dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung entstand am 1. Januar 1871 das Kaiserreich.[2] Die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum Kaiser erfolgte am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles.[3] Nach dem Krieg gegen Frankreich, der zu diesem Zeitpunkt noch andauerte, wurde Elsaß-Lothringen dem Deutschen Reich angegliedert und als Reichsland direkt dem Kaiser unterstellt.

Zur Zeit des Kaiserreichs war Deutschland wirtschafts- und sozialgeschichtlich geprägt durch die Hochindustrialisierung. Ökonomisch und sozial wandelte es sich insbesondere seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vom Agrar- zum Industrieland. Mit dem Ausbau von Handel und Bankwesen wuchs auch die Bedeutung des Dienstleistungssektors. Das auch durch die französischen Kriegsreparationen nach 1871 verstärkte Wirtschaftswachstum wurde durch den sogenannten Gründerkrach von 1873 und die ihm folgende langjährige Konjunkturkrise zeitweilig gebremst. Trotz erheblicher politischer Folgen änderte dies nichts an der strukturellen Entwicklung hin zum Industriestaat.

Kennzeichnend für den gesellschaftlichen Wandel war eine stark international orientierte Reformbewegung, in deren Verlauf die soziale Frage mit Armutsskandalisierung und -bekämpfung vorangetrieben wurde, Frauen forderten verbesserte Bildungschancen und das Wahlrecht.[4] Strukturelle Grundlage dieser Veränderungen waren neben der Massenpolitisierung ein rapides Bevölkerungswachstum, Binnenwanderung und Urbanisierung. Die Gesellschaftsstruktur wurde durch die Zunahme der städtischen Arbeiterbevölkerung und – vor allem in den Jahren ab etwa 1890 – auch des neuen Mittelstandes aus Technikern, Angestellten sowie kleinen und mittleren Beamten wesentlich verändert. Dagegen ging die wirtschaftliche Bedeutung des Handwerks und der Landwirtschaft – bezogen auf deren Beiträge zum Volkseinkommen – eher zurück.

Die innen- und außenpolitische Entwicklung des Reichs wurde von 1871 bis 1890 von seinem ersten und am längsten amtierenden Kanzler, Otto von Bismarck, bestimmt. Seine Regierungszeit lässt sich in eine relativ liberale Phase, geprägt von innenpolitischen Reformen und vom Kulturkampf, und eine eher konservativ geprägte Zeit nach 1878/79 einteilen. Als Zäsur gelten der Übergang zum Staatsinterventionismus (Schutzzoll, Sozialversicherung) sowie das Sozialistengesetz.

Bismarck versuchte außenpolitisch, das Reich durch ein komplexes Bündnissystem abzusichern (z. B. Zweibund mit Österreich-Ungarn 1879). Ab 1884 begann der – später intensivierte – Einstieg in den überseeischen Imperialismus. Es folgten internationale Interessenkonflikte mit anderen Kolonialmächten, insbesondere der Weltmacht Großbritannien.

Die Phase nach der Ära Bismarck wird oft als Wilhelminisches Zeitalter bezeichnet, weil Kaiser Wilhelm II. (ab 1888) nach der Entlassung Bismarcks persönlich in erheblichem Umfang Einfluss auf die Tagespolitik ausübte. Daneben spielten auch andere, teilweise konkurrierende Akteure eine wichtige Rolle. Sie beeinflussten die Entscheidungen des Kaisers und ließen sie oft widersprüchlich und unberechenbar erscheinen.

Durch den Aufstieg von Massenverbänden und -parteien sowie die wachsende Bedeutung der Presse gewann zudem die öffentliche Meinung an Gewicht. Nicht zuletzt darum versuchte die Regierung mit einer imperialistischen Weltpolitik, einer antisozialdemokratischen Sammlungspolitik und einer populären Flottenrüstung (siehe Flottengesetze) ihren Rückhalt in der Bevölkerung zu erhöhen. Außenpolitisch führte Wilhelms Weltmachtstreben jedoch in die Isolation; durch diese Politik trug das Reich dazu bei, die Gefahr des Ausbruchs eines großen Krieges zu erhöhen. Als dieser Erste Weltkrieg[5] schließlich 1914 ausgelöst wurde, war das Reich in einen Mehrfrontenkrieg verwickelt. Auch in der Innenpolitik gewann das Militär an Einfluss. Mit der zunehmenden Anzahl von Kriegstoten an den Fronten und der sozialen Not in der Heimat (gefördert durch alliierte Seeblockaden) begann die Monarchie an Rückhalt zu verlieren.

Erst gegen Kriegsende kam es zu den Oktoberreformen 1918, die unter anderem bestimmten, dass der Reichskanzler das Vertrauen des Reichstages haben musste. Schon bald darauf wurde in der Novemberrevolution die Republik ausgerufen, und die verfassunggebende Nationalversammlung in Weimar konstituierte das Reich 1919 als parlamentarische Demokratie. Das heutige Deutschland ist völkerrechtlich mit dem Deutschen Reich des Jahres 1871 identisch, auch wenn sich die Regierungsform seither mehrmals geändert hat.

  1. Zur Kontroverse über das Reich als konstitutionelle Monarchie siehe Hans-Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich 1871–1918, München 2005, S. 65 f.
  2. Michael Kotulla: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495 bis 1934). Springer, 2008, S. 522.
  3. Vgl. dazu Tim Ostermann, Die verfassungsrechtliche Stellung des Deutschen Kaisers nach der Reichsgründung von 1871, Peter Lang, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-631-59740-8, S. 25 Anm. 152; Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866–1945. Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches, 3. Auflage in der Beck’schen Reihe, München 2006, ISBN 978-3-406-42106-8, S. 50; Matthias Schwengelbeck: Die Politik des Zeremoniells. Huldigungsfeiern im langen 19. Jahrhundert. Campus, Frankfurt am Main/New York 2007, ISBN 978-3-593-38336-1, S. 307.
  4. Margaret Anderson, Sibylle Hirschfeld (Übers.): Lehrjahre der Demokratie – Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Stuttgart 2009; Ute Planert: Wie reformfähig war das Kaiserreich? Ein westeuropäischer Vergleich aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive. In: Sven Oliver Müller, Cornelius Torp (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen 2009, S. 165–184; Hedwig Richter: Die Reformzeit um 1900, in: LeMO, hg. vom Deutschen Historischen Museum Berlin, 2019.
  5. Im englischen Sprachraum hat sich die Bezeichnung „Großer Krieg“ als Synonym für den Ersten Weltkrieg erhalten.

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