Entdeckung der Kernspaltung

Ehemaliges Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, heute Hahn-Meitner-Bau der Freien Universität Berlin Koordinaten: 52° 26′ 53,2″ N, 13° 17′ 3,1″ O

Die Entdeckung der Kernspaltung am 17. Dezember 1938 im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin ist eines der bedeutendsten und folgenreichsten Ereignisse in der Geschichte der Naturwissenschaften. Bei der Bestrahlung von Uran mit Neutronen entstanden Spaltprodukte des Urans, unter anderem das zuerst nachgewiesene Barium. Dieses entscheidende Ergebnis eines kernphysikalischen und radiochemischen Experiments von Otto Hahn wurde durch chemische Analysen seines Assistenten Fritz Straßmann ergänzt. In interdisziplinärer Zusammenarbeit wurde dieses unerwartete Ergebnis im Januar 1939 durch Lise Meitner und Otto Frisch erstmals theoretisch und kernphysikalisch gedeutet.

Den Ausgangspunkt bildeten die Versuche von Enrico Fermi, der 1934 verschiedene chemische Elemente mit Neutronen bestrahlt hatte, unter anderem Uran. In jahrelanger Arbeit versuchten Hahn, Meitner und Straßmann, die bei der Bestrahlung des Urans gemachten Beobachtungen aufzuklären. Unabhängig hiervon widmete sich von 1937 an auch eine Arbeitsgruppe um Irène Joliot-Curie am Radium-Institut in Paris dem gleichen Thema. Anfangs verfolgten alle Arbeitsgruppen die Hypothese, dass bei den Bestrahlungen schwerere Elemente als Uran (sogenannte Transurane) entstehen. Obwohl diese bei derartigen Experimenten auch entstehen (zum Beispiel 239Pu durch Neutroneneinfang und zwei anschließende Betazerfälle aus dem Isotop 238U), ist heute bekannt, dass die chemischen und radiologischen Eigenschaften dieser Elemente nicht zu den Beobachtungen von Fermi, Joliot-Curie und Hahn passen. Im Dezember 1938 kam es zu einem unerwarteten Ergebnis: Hahn und Straßmann wiesen mit Hilfe spezieller chemischer Trenn- und Analyseverfahren nach, dass es sich bei den beobachteten Reaktionsprodukten um in der Natur nicht vorkommende radioaktive Bariumisotope handelte. Es kam bei den Versuchen offenbar zu einem – wie es Hahn formulierte – „Zerplatzen“ des Atomkerns, das sich die Chemiker theoretisch nicht erklären konnten. Dieses „Zerplatzen“ führt nicht zu den beim radioaktiven Zerfall des Urans (Uran-Radium-Reihe und Uran-Actinium-Reihe) auftretenden Reaktionsprodukten. Lise Meitner verwendet im Januar 1939 bereits neben dem Begriff „Zerplatzen“ auch explizit das Wort „Zerspaltung“ in einem Briefentwurf.[1]

Lise Meitner, die wegen ihrer jüdischen Abstammung im Sommer 1938 das nationalsozialistische Deutschland hatte verlassen müssen und mit Hahns Hilfe über die Niederlande nach Schweden emigriert war, wurde in der Folgezeit brieflich von Otto Hahn über den Fortschritt der Berliner Experimente unterrichtet. Sie konnte somit im Januar 1939 gemeinsam mit ihrem Neffen Otto Frisch eine erste kernphysikalische Deutung der Hahn-Straßmann’schen Ergebnisse ausarbeiten und zusammen mit Frisch im Februar 1939 in der britischen Fachzeitschrift Nature veröffentlichen. Ihr Modell beschrieb den Urankern als elektrisch geladenen Flüssigkeitstropfen, der durch das Einfangen des Neutrons so in Schwingungen versetzt wurde, dass er sich in zwei annähernd gleich große Fragmente teilte, wobei eine hohe Energie freigesetzt wurde. Frisch gab diesem bisher unbekannten Kernreaktionstyp den Namen nuclear fission (Kernspaltung), der sich schnell international durchsetzte. Die Hahn-Straßmann- und Frisch-Meitner-Veröffentlichungen im Januar und Februar 1939 lösten eine außerordentliche Resonanz unter den Naturwissenschaftlern aus, weil die Kernspaltung eine neue Energiequelle von bisher unbekannter Größenordnung erschloss, die Kernenergie.

  1. Nicht datierter Brief von Lise Meitner an Otto Frisch als Antwort auf einen Brief von Otto Hahn vom 7. Jänner 1939; Meitner Collection, Churchill Archives Center, Cambridge

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