Naturvolk

Die ersten Kontakte zu staatenlosen Stammesvölkern führten zur Bezeichnung Naturvolk („Australia: the first hundred years“, A. Garran, 1886)
Isolierte Ethnien (Luftbild aus Brasilien) werden in den Medien häufig als „Naturvölker“ bezeichnet. In der Ethnologie wird diese Bezeichnung als irreführend und abwertend prinzipiell vermieden.

Mit dem Sammelbegriff Naturvölker werden traditional orientierte Ethnien der Gegenwart sowie alle historischen Lebensverbände bezeichnet, die außerhalb oder vor dem Beginn der industrialisierten Zivilisation leben oder lebten (dementsprechend werden einzelne Angehörige eines Naturvolks gelegentlich auch als Naturmenschen bezeichnet)[1]. Die nähere Bestimmung und die Verwendung der Bezeichnung ist abhängig vom jeweiligen Zusammenhang:

  1. Die gegenwärtige Ethnologie hat sich von dem ursprünglichen Fachbegriff distanziert, da er mittlerweile als veraltet, uneinheitlich oder abwertend (pejorativ) angesehen wird. Im späteren 19. Jahrhundert wurde der Begriff zur Abgrenzung der angeblich überlegenen, europäischen „Kulturvölker“ von „primitivenVölkern benutzt (siehe auch: Eurozentrismus). Im 20. Jahrhundert versuchten einige Autoren, Naturvolk ohne pejorative Nebenbedeutung als Sammelbegriff für traditionell subsistenzorientierte Jäger und Sammler, Feldbauern und Hirtennomaden zu etablieren.[A 1] Die frühere Assoziation zu „kulturlosen Völkern“ wurde jedoch nie vollständig überwunden.[2][3]
  2. Als konventioneller Oberbegriff für „nicht-industrialisierte Menschengruppen abgelegener Wildnisregionen mit naturverbundenen Versorgungsstrategien“ wird die Bezeichnung außerhalb der ethnologischen Wissenschaft weiterhin verwendet.[4][2] Diese ökologisch-ökonomische Bestimmungskomponente spielt bei der Mehrzahl der heutigen Verwendungen die entscheidende Rolle (siehe: „Naturvolk“ als populäre Bezeichnung).[5][6]

Naturvolk war ursprünglich ein kulturkritischer Begriff der europäischen Aufklärung.[7] Die Wortschöpfung wird Herder zugeschrieben; lexikalisch ist er erstmals 1777 belegt. Die grundlegenden Ideen dazu stammen von Rousseau und anderen Vordenkern der Aufklärung. Der Zivilisation des 18. Jahrhunderts wurde mit der romantischen Vorstellung des „edlen Wilden“ ein Gegenbild des Menschen in seinem ursprünglichen Naturzustand entgegengehalten.

Das Wort Naturvolk kommt im deutschen Sprachraum, im niederländischen (natuurvolk)[8] und skandinavischen (naturfolk) Sprachraum vor[9][10][11] sowie in der Form naturels in der französischen Sprache.[12] Ursprünglich gab es keine Entsprechung im Englischen.

Im englischsprachigen Raum existiert in Ökologie und Anthropologie seit 1976 der Begriff ecosystem people („Ökosystem-Menschen“), der alle Ethnien bezeichnet, die auf traditionelle, subsistenzorientierte Weise ausschließlich von den Ressourcen eines oder weniger benachbarter Ökosysteme leben. Diese Definition schließt die konventionell so genannten „Naturvölker“ mit ein. Lediglich die vage Beschränkung auf abgelegene Wildnisgebiete fehlt. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen setzte die „sog. Naturvölker“ mit den Ökosystem-Menschen gleich.[5] In der deutschen Literatur hat sich der neue Begriff allerdings bislang nicht etabliert.

Als populärer Ersatz für die umstrittene Bezeichnung Naturvolk werden vor allem die beiden Bezeichnungen Ethnie oder indigene Völker (französisch peuples autochtones) verwendet. Für eine differenzierte Benennung mit Bezug zur Lebensweise der Menschen sind diese Begriffe jedoch nicht geeignet, da zu allgemein und demnach ihrerseits irreführend oder gar falsch. Darüber hinaus wurden verschiedene alternative Bezeichnungen für nicht-industrielle Gruppen entwickelt, die je nach fachlichem Zusammenhang (Ethnologie, Soziologie, Politik, Menschenrechte, Ökologie) verwendet werden.

  1. Eintrag Naturmensch (3. Bedeutung) im Duden-Online-Wörterbuch. Abgerufen am 4. August 2021.
  2. a b Waldemar Stöhr: Lexikon der Völker und Kulturen als Taschenbuchausgabe auf der Grundlage des „Westermann-Lexikon der Geographie“. Westermann, Braunschweig 1972, S. 140–141.
  3. Michael Schönhuth: Stichwort: Naturvolk, Das Kulturglossar online, abgerufen am 29. Juni 2015.
  4. Seite: „Terminologie“ auf www.survivalinternational.de. Abgerufen am 15. Juni 2013.
  5. a b WBU: Welt im Wandel – Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Biosphäre. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2000, ISBN 3-540-67106-4, S. 124–126, 187.
  6. Gabriela Petersen: Der Begriff „Naturvolk“ in der Ethnologie – Herkunft, Diskussion, Theorieprobleme. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium der Universität Hamburg, veröffentlicht: SUB 934497217, Hamburg 1987, S. 57.
  7. Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. C.H. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-54796-6.
  8. Niederlande u. a. H. Kluin: Het geestesleven der natuurvolken. 's-Gravenhage, 's-Gravenhage 1924.
  9. Dänemark, u. a. Nationalmuseet (Denmark). Etnografisk samling: Tropiske naturfolk. J. D. Qvist & komp. bogtr., København 1940.
  10. Schweden, u. a. Åke Hultkrantz: Naturfolk och kulturfolk, Världens länder och folk efter andra världskriget. Sven Dahl, Part I, Stockholm 1947.
  11. Norwegen, u. a. Fredrik Chr. Brøgger: „Naturfolk“ i teori og praksis: Skildringen av Samene og den nordlige naturen i Knud Rasmussens Lapland (1907). In: Nordlit : Tidsskrift i litteratur og kultur Issue 32 (Juli 2014), Universitetet i Tromsø. S. 99–115.
  12. Le Grand Robert de langue française. Band 6, Le Robert, Paris 1985, S. 701.


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