Nulla poena sine lege

Nach kontinentaleuropäischem Rechtsverständnis bezeichnet die lateinische Kurzformel nullum crimen, nulla poena sine lege („kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz“) das Gesetzlichkeitsprinzip (bzw. den Gesetzlichkeitsgrundsatz) im Strafrecht. Hieraus ergeben sich die Garantiefunktionen des Strafgesetzes im Rechtsstaat. Verbrechen (crimen) ist somit allein das, was der Gesetzgeber zur Straftat erklärt hat. Nur ein formelles Gesetz kann daher die Strafbarkeit einer Handlung begründen.[1] Das Gesetzlichkeitsprinzip ist im Wesentlichen eine Errungenschaft der Epoche der Aufklärung.[2] Es wird im deutschsprachigen Raum insbesondere auf Paul Johann Anselm von Feuerbach[3] zurückgeführt.[4][2]

Die Langfassung der lateinischen Formel nullum crimen, nulla poena sine lege scripta, praevia, certa et stricta umschreibt die vier Einzelprinzipien des Gesetzlichkeitsprinzips:[5]

  • Notwendigkeit zur schriftlichen Fixierung der Strafbarkeit (Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts, nulla poena sine lege scripta)
  • Notwendigkeit der Fixierung vor Begehung der Tat (strafrechtliches Rückwirkungsverbot, nulla poena sine lege praevia)
  • Notwendigkeit hinreichender Bestimmtheit des Gesetzes (strafrechtlicher Bestimmtheitsgrundsatz, nulla poena sine lege certa)
  • Verbot von Analogie zu Lasten des Täters über den Wortlaut des Gesetzes hinaus (Analogieverbot im Strafrecht, nulla poena sine lege stricta)

Das Gesetzlichkeitsprinzip gehört in einer Vielzahl nationaler Rechtsordnungen zu den verfassungsrechtlich und menschenrechtlich geschützten Justizgrundrechten. Streng angewendet wird das Gesetzlichkeitsprinzip in Rechtsordnungen des kontinentaleuropäischen Rechtskreises, in denen das geltende Recht weitgehend kodifiziert ist. Gewisse Einschränkungen bestehen demgegenüber innerhalb von Rechtsordnungen, in welchen das Fallrecht eine eigenständige Rechtsquelle darstellt, insbesondere in Staaten des Common-Law-Rechtskreises[6] sowie im Völkerstrafrecht.[7]

Das Gesetzlichkeitsprinzip als grundlegende Bestimmung des materiellen Strafrechts ist strikt zu unterscheiden vom strafprozessualen Legalitätsprinzip (Ermittlungspflicht der Strafverfolgungsbehörden), obwohl beide Begriffe im Englischen gleich übersetzt werden (principle of legality).

Von der Regel nulla poena sine lege ausgenommen sind aus heutiger völkerrechtlicher Sicht in Bezug auf nationales Recht Völkerrechtsverbrechen (siehe Nürnberg-Klausel) und in Deutschland Taten, die nur wegen eines „unerträglich ungerechten“ – das heißt Völkerrechtsverbrechen legalisierenden – Gesetzes legal sind (siehe Radbruch'sche Formel).

  1. Vgl. Johannes Wessels/Werner Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 42. Aufl. 2012, S. 12, Rn. 44; Rudolf Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2012, S. 14, Rn. 1 ff.
  2. a b Vgl. Rudolf Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2012, S. 14, Rn. 4.
  3. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Feuerbach.
  4. Vgl. Bernd von Heintschel-Heinegg, in: Beck’scher Online-Kommentar StGB, Hrsg. von Heintschel-Heinegg (BeckOK StGB), Stand: 10. November 2014, Edition: 25, § 1 Rn 1.
  5. Hans Kudlich: Fälle zum Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl., München 2018, S. 34.
  6. Vgl. Markus Dubber, Tatjana Hörnle: Criminal Law: A Comparative Approach, 2014, ISBN 0-19-958960-7, S. 73 ff.
  7. Gerhard Werle (Hrsg.): Völkerstrafrecht, 3. Auflage, 2012, Rn. 110.

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