Schamanismus

Burjaten-Schamane mit Trommel im Zeremonialgewand (1904) – das klassische sibirische Schamanentum dient häufig als Paradigma für die verschiedensten Schamanismus-Konzepte.
„Schamane“ aus Amazonien (2006) – das Vorkommen des Schamanismus über Eurasien hinaus ist aus wissenschaftlicher Sicht jedoch umstritten.

Schamanismus bezeichnet im engeren Sinne die traditionellen ethnischen Religionen des Kulturareales Sibirien (Nenzen, Jakuten, Altaier, Burjaten, Ewenken, auch europäische Samen und andere), bei denen das Vorhandensein von Schamanen von europäischen Forschern der Expansionszeit als wesentliches gemeinsames Kennzeichen erachtet wurde.[1] Zur besseren Abgrenzung werden diese Religionen häufig „klassischer Schamanismus“ oder auch „sibirischer Animismus“ genannt.[2]

Im engeren Sinne handelt es sich bei den Šamán um spirituelle Spezialisten, um Männer wie Frauen, die bei dem ostsibirischen Ethnien der Tungusen wirken, wohingegen die meisten Turkvölker den Schamanen „qam“, „kam“ oder „xam“ nennen.[3]

Im weiteren Sinne steht Schamanismus für alle wissenschaftlichen Konzepte, die aufgrund von ähnlichen Praktiken spiritueller Spezialisten in verschiedenen traditionellen Gesellschaften die kulturübergreifende Existenz des Schamanismus postulieren. Nach László Vajda[4] und Jane Monnig Atkinson[A 1] sollte aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Konzepte treffender von Schamanismen im Plural gesprochen werden.

Sibirische Schamanen und verschiedene Geisterbeschwörer anderer Ethnien – die ebenfalls häufig verallgemeinernd als Schamanen bezeichnet werden – hatten oder haben in vielen traditionellen Weltanschauungen angeblich Einfluss auf die Mächte des Jenseits. Sie setzten ihre Fähigkeiten vorwiegend zum Wohle der Gemeinschaft ein, um in unlösbar erscheinenden Krisensituationen die „kosmische Harmonie“ zwischen Diesseits und Jenseits wiederherzustellen. In diesem weiten Sinne bezeichnet Schamanismus eine Reihe unscharf bestimmter Phänomene „zwischen Religion und Heilritual“.[5][6][7][8][9][10][Anmerkung 1]

Eine nähere allgemeingültige Bestimmung ist nicht möglich, da die Definition verschiedene Betrachtungsweisen aus Sicht der Ethnologie, Kulturanthropologie, Religionswissenschaften, Archäologie, Soziologie und Psychologie enthält.[11][12] Dies hat unter anderem zur Folge, dass Angaben zur räumlichen und zeitlichen Verbreitung der „Schamanismen“ erheblich voneinander abweichen und in vielen Fällen umstritten sind.[13][14][15] Der US-amerikanische Ethnologe Clifford Geertz sprach daher bereits in den 1960er Jahren dem „westlich idealistischen Konstrukt Schamanismus“ jeglichen Erklärungswert ab.[A 2]

Einig ist man sich lediglich bei der „engen Definition“ des klassisch sibirischen Schamanismus – dem Ausgangspunkt der ersten „Schamanismen“. Dazu gehört vor allem die genaue Beschreibung der dort praktizierten rituellen Ekstase, eine weitgehend übereinstimmende ethnische Religion sowie eine ähnliche Kosmologie und Lebensweise.[16][12][17]

Nach weiter gefassten Definitionen wird Schamanismus bis in die 1980er Jahre als frühe, kulturübergreifende Entwicklungsstufe jeglicher Religion betrachtet.[16] Vor allem das Konzept des Core-Schamanismus von Michael Harner ist hier zu nennen. Diese Auslegung gilt jedoch mittlerweile als nicht konsensfähig.[15] Seit den 1990er Jahren steht häufig der Aspekt des „Heilens“ im Mittelpunkt des Interesses (und der jeweiligen Definition).[11]

Demgegenüber geht der Indologe Michael Witzel davon aus, dass es angesichts der Ähnlichkeit australischer, andamanischer, indischer und afrikanischer Initiationsrituale mit den entsprechenden sibirischen Ritualen, die die Phänomene der aufsteigenden Hitze, Trancen (Dreamers), Ekstase und Kollaps, symbolischen Tod und Wiedergeburt, Verwendung psychoaktiver Drogen, Tabubewahrung, Zauberei und Heilung umfassen, einen älteren Prototyp des Schamanismus gegeben habe. Dieser habe sich mit der Out-of-Africa-Wanderung des modernen Menschen entlang der Küsten des Indischen Ozeans und früh auch nach Eurasien und Nordamerika verbreitet. Dafür sprächen spätpaläolithische Bärenkulte und Felszeichnungen wie in Les trois frères (Abb. siehe unten). Der sibirische Schamanismus stelle eine jüngere Evolutionsstufe dieses Prototyps dar (mit Fellkleidung, Trommel usw.); er habe über weitere Wanderungswellen die nordamerikanischen Jägerkulturen sekundär beeinflusst. An die Stelle des Opfers wilder Tiere, die der Schamane vorher um Erlaubnis für die Tötung fragt oder bei denen er sich für die Tat entschuldigt (so bei den Bärenkulten der Schamanen der Ainu, Aleuten und der transbaikalischen Völker), seien später domestizierte Tiere wie das Rentier (in Sibirien) oder Hunde (wie in Russland oder Indien) getreten.[18] Insofern folgt Witzel der weiten phänomenologischen Schamanismus-Definition von Walter und Fridman.[19]

Da bereits der klassische Schamanismus Sibiriens etliche Varianten aufweist, werden weiter reichende geographische oder historische Auslegungen, die solche Phänomene aus ihrem kulturellen Kontext gelöst betrachten und verallgemeinern, von vielen Autoren als spekulativ kritisiert.[20][14] In der zeitgenössischen Literatur – populärwissenschaftlichen (insbesondere esoterischen) Büchern, aber auch wissenschaftlichen Schriften – wird in diesem Zusammenhang oftmals nicht deutlich gemacht, auf welche Ethnien sich Darstellungen zu bestimmten schamanischen Praktiken konkret beziehen, so dass regionale (oft sibirische) Phänomene auch in anderen Kulturen verortet werden, in deren Traditionen sie tatsächlich jedoch fremd sind. Beispiele dafür sind der Weltenbaum und die gesamte schamanische Kosmologie: in Eurasien verankerte mythologische Konzepte, die hier mit ähnlichen Archetypen anderer Weltgegenden gleichgesetzt werden und so das irreführende Bild eines einheitlichen Schamanismus erzeugen.[14] Witzel sieht jedoch in der eurasischen (germanischen, indischen, japanischen usw.) Vorstellung vom Baum des Lebens, der erstiegen werden muss, beziehungsweise im Weltenbaum nur eine Analogie zur älteren Vorstellung des Schamanenflugs, die nichts mit anderen Baummythen zu tun habe.[21]

Insbesondere die äußerst erfolgreichen Bücher von Mircea Eliade, Carlos Castaneda und Harner haben den „modernen Mythos Schamanismus“ erzeugt, der suggeriert, dass es sich dabei um ein universelles und homolog entstandenes religiös-spirituelles Phänomen handeln würde. Im Hinblick auf das große Interesse in der Bevölkerung[22] weisen einige Autoren darauf hin, dass Schamanismus keine einheitliche Ideologie oder Religion bestimmter Kulturen ist. Es handle sich vielmehr um ein wissenschaftliches Konstrukt aus eurozentrischer Perspektive, um ähnliche Phänomene rund um die Geisterbeschwörer unterschiedlichster Herkunft zu vergleichen und zu klassifizieren.[15][23][24]

  1. Gorbatcheva, S. 181.
  2. Mihály Hoppál: Das Buch der Schamanen. Europa und Asien. Econ Ullstein List, München 2002, ISBN 3-550-07557-X, S. 11 ff.
  3. Wassilios Klein: Schamane/Schamanin/Schamanismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Online abgerufen am 11. Februar 2024 https://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_024719, auf referenceworks.brillonline.com [1]
  4. László Vajda, Thomas O. Höllmann (Hrsg.): Ethnologica. Ausgewählte Aufsätze. Otto Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1999, ISBN 3-447-04209-5, S. 145–147.
  5. Viviana Korn: Schamanismus. In: „Kurzinformation Religion“ des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes e. V., Marburg 2010, abgerufen am 30. Januar 2015.
  6. Manfred Kremser: Am Anfang war das Ritual – Schematische Aufstellungsarbeit in indigenen Kulturen? In: Guni Leila Baxa, Christine Essen, Astrid Habiba Kreszmeier (Hrsg.): Verkörperungen: Systemische Aufstellung, Körperarbeit und Ritual. Online-Ausgabe, Auer Verlag, Heidelberg 2002, ISBN 3-89670-718-3, S. 110–128.
  7. Karl R. Wernhart: Ethnische Religionen – Universale Elemente des Religiösen. Topos, Kevelaer 2004, ISBN 3-7867-8545-7, S. 139.
  8. Piers Vitebsky: Schamanismus. Taschen, Köln 2001, S. 11.
  9. Roger N. Walsh: The spirit of shamanism. Tarcher, New York 1990, S. 11.
  10. Roger N. Walsh in Gerhard Mayer: Schamanismus in Deutschland. Konzepte – Praktiken – Erfahrungen. Band 2 von Grenzüberschreitungen. Beiträge zur wissenschaftlichen Erforschung außergewöhnlicher Erfahrungen und Phänomene. Ergon, Würzburg 2003, ISBN 3-89913-306-4, S. 14.
  11. a b Dirk Schlottmann: Was ist ein Schamane? Koreanischer Schamanismus heute. (Memento vom 6. Juni 2015 im Internet Archive) In: journal-ethnologie.de, Aktuelle Themen 2007, Museum der Weltkulturen, Frankfurt 2008, abgerufen am 5. Juni 2018 (web.archive.org).
  12. a b Ronald Hutton: Shamans. Siberian Spirituality and the Western Imagination. University of Michigan, Hambledon/London 2001, ISBN 1-85285-324-7, S. VII.
  13. Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag; kein Text angegeben für Einzelnachweis mit dem Namen Sagaster.
  14. a b c Thomas O. Höllmann, Götzfried u. Claudius Müller (Hrsg.): Ethnologica: Ausgewählte Aufsätze von László Vajda. Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1999, ISBN 3-447-04209-5, S. 145–147.
  15. a b c Kai Funkschmidt: Schamanismus und Neo-Schamanismus. In: Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen ezw-berlin.de, Berlin, 2012, abgerufen am 4. Februar 2015.
  16. a b Andreas M. Oberheim: Schamanismus in Südamerika. (Memento vom 10. Juni 2015 im Internet Archive) Annika Wieckhorst, Proseminar: Einführung in die Medizinethnologie. Universität zu Köln, Sommersemester 2007, abgerufen am 18. Februar 2015.
  17. Waldemar Stöhr: Lexikon der Völker und Kulturen. Westermann, Braunschweig 1972, ISBN 3-499-16160-5, S. 59.
  18. Michael Witzel: The Origins of the World's Mythologies. Oxford University Press, New York 2011, S. 382 ff.
  19. Mariko Namba Walter, E. J. Neumann Fridman (Hrsg.): Shamanism. Santa Barbara 2004, ISBN 978-1-57607-645-3. Einleitung S. XVII ff.
  20. Walter Hirschberg (Begründer), Wolfgang Müller (Redaktion): Wörterbuch der Völkerkunde. Neuausgabe, 2. Auflage. Reimer, Berlin 2005, S. 326–327.
  21. Witzel 2011, S. 132 ff.
  22. Heiko Grünwedel (ggf. Hrsg.): Schamanismus zwischen Sibirien und Deutschland: Kulturelle Austauschprozesse in globalen religiösen Diskursfeldern. transcript, Bielefeld 2013, ISBN 978-3-8376-2046-7, S. 46.
  23. Michael Kleinod: Schamanismus und Globalisierung. Essay im Rahmen des Seminars Kulturelle Globalisierung und Lokalisierung, Ethnologie, Universität Trier 2005, ISBN , S. 4–7.
  24. Karl R. Wernhart: Ethnische Religionen, erschienen in: Johann Figl (Hrsg.): Handbuch Religionswissenschaft: Religionen und ihre zentralen Themen. Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck 2003, ISBN 3-7022-2508-0, S. 278–279.


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